Der Fall Johann Ludwig Steuernagel – ein früher deutscher Revolutionär oder nur ein Mitläufer seiner Zeit?

Im Zuge unserer Forscherarbeit ist es uns bei einem Besuch im Sächsischen Staatsarchiv in Leipzig gelungen, bedeutende Dokumente der Zeitgeschichte eines unserer Vorfahren ans Licht zu bringen – des Schmiedegesellen Johann Ludwig Steuernagel (1820-1882). (mehr) Alle Original-Dokumente können im Staatsarchiv Leipzig eingesehen werden. Wir haben diese transkripiert und als pdf-Dateien hinterlegt.


Nach den vorliegenden Dokumenten stellte sich heraus, dass dieser indirekt an einem bedeutenden gesellschaftspolitischen Ereignis der damaligen Zeit beteiligt war, nämlich an den Maiereignissen 1849 in Dresden, der Landeshauptstadt im Königreich Sachsen. Dieser Dresdner Maiaufstand entstand in Folge des Versuchs der Revolution von 1848 in vielen Staaten Deutschlands, so u.a. in Preußen (Berlin) wie auch in Hessen (Frankfurt am Main). Es war einer der letzten Versuche, die Monarchie zu beseitigen und die Republik auszurufen. (weitere Informationen)
Ende April/Anfang Mai 1849 war Johann Ludwig Steuernagel auf der Suche nach Arbeit unterwegs im Königreich Sachsen. Er kam aus dem südlichen Sachsen und erschien am 05. oder 06.05.1849 bei seinem Bruder Johann Christian Steuernagel in Wittgendorf bei Rochlitz. (mehr)
Wahrscheinlich von hier aus trat Johann Ludwig Steuernagel am 07.05.1849 die weitere Wanderung auf der Suche nach Arbeit an. Sein Weg führte ihn nach Colditz in Sachsen, wo er mitten in eine Bürgerbewegung geriet, deren Führer u.a. der Colditzer Arzt Dr. Legler war. Dieser rief auf zum Sturm und zum Zuzug nach Dresden. Im Vorfeld des Zuzuges nach Dresden fanden an diesem Tage in Colditz eine Volksversammlung sowie die Wahl von geeigneten Führern statt, die die bewaffneten Gruppen nach Dresden führen sollten. Alle, die sich mit anschließen wollten, sollten sich tags darauf im Rathaus zu Colditz zum Waffen- und Munitionsempfang melden. Am 08.05.1849 meldete sich Johann Ludwig Steuernagel an entsprechender Stelle und schloss sich dem bewaffneten Zuzuge nach Dresden an. Er gehörte einer Gruppe an, die Friedrich Wilhelm Otto Wagner aus Colditz führte. Die einzelnen Stationen des Zuges der Aufständischen lassen sich anhand eigner Aussagen des Johann Ludwig Steuernagel an nachfolgender Karte sehr gut nachvollziehen:

  • Abzug in Colditz vom Markt am Dienstag, den 08.05.1849, gegen 11.00 Uhr.
  • Der Weg führt über Waldheim nach Reichenbach. Dort Übernachtung im hiesigen Gasthofe. (Punkt 1) Anfrage an Reichenbacher Großbauern durch den Führer der Aufständischen, Wagner, ob aufgrund ungünstiger Witterung ein weiterer Transport mit Leiterwagen möglich ist.
  • Aufbruch in Reichenbach am Mittwoch den 09.05.1849 mit drei zweispännigen Leiterwagen bis nach Obereula hinter Nossen. (Punkt 2)
  • In Obereula Zusammentreffen mit aus Dresden zurückflutenden Aufständischen, welche aussagen, dass der Aufstand gescheitert sei und ein weiteres Vorgehen nicht sinnvoll ist. Darauf Beratung und Trennung des Zuges der Aufständischen in Nossen/Obereula. Noch am 09.05.1849 treten ca. 18 Mann, darunter Johann Ludwig Steuernagel, den Rückzug unter Führer Wagner an, nur vier Mann ziehen gen Dresden weiter.
  • Die Umkehrer ziehen über Siebenlehn bis Voigtsberg bei Freiberg. Dort übernachtet man. (Punkt 3)
  • Am Donnerstag, den 10.05.1849, Aufbruch der Rückkehrer von Voigtsberg. Weiterer Rückzug über Hainichen, Mittweida, Geringswalde bis Aitzendorf. Dort übernachten die Umkehrer ein letztes Mal. (Punkt 4)
  • Frühmorgendlicher Aufbruch am Freitag, den 11.05.1849, in Aitzendorf und Ankunft in Colditz am 11.05.1849 gegen 9.00 Uhr.

Es ist zu vermuten, dass die Rückkehrer nach Colditz sich der Rechtsverletzung gegen den sächsischen Staat durchaus schon bewusst waren, da als Rückweg nach Colditz ein weiterer Umweg in Kauf genommen wurde, vermutlich um nicht dem sächsischen Militär zu begegnen. Nachdem Johann Ludwig Steuernagel am 11.05.1849 in Colditz eingetroffen ist, hat er seine Waffe und die dazugehörige Munition abgegeben und sich auf den Heimweg nach Thierbach bei Eula begeben, wo er auch noch am 11.05.1849 eingetroffen ist.
Doch der sächsische Justiz- und Polizeiapparat war bereits in Bewegung geraten und begann nach Rädelsführern und Mitläufern der staatsfeindlichen Bewegung zu fahnden. In Colditz wurde wahrscheinlich im Juli 1849 Friedrich Wilhelm Otto Wagner verhaftet, welcher in seiner Vernehmung angab, dass sich ein gewisser Johann Ludwig Steuernagel am Zuzuge nach Dresden mit beteiligt hat. Das Justizamt Colditz setzte sich sofort mit dem Justizamt Borna in Verbindung, um diese Aussage prüfen zu lassen. (mehr) Das Justizamt Borna erhielt diese Nachricht am 03.08.1849 und stellte daraufhin am 16.08.1849 einen entsprechenden Haftbefehl aus. (mehr) Mit diesem Haftbefehl wird der Amtsfrohn Müller aufgefordert, sich sofort nach Thierbach zu begeben, den „Verhaftbefehl“ an Johann Ludwig Steuernagel auszuhändigen und diesen sofort zu verhaften. (mehr) Die Verhaftung wurde noch am selben Tage durch den Amtsfrohn Müller vorgenommen, wie dieser in seiner Vollzugsmeldung an das Justizamt Borna mitteilt. (mehr)
Nach der Vernehmung vom 17.08.1849 und Ablieferung der Verteidigungsschrift seines Anwaltes (mehr) stellt Johann Ludwig Steuernagel die Bitte, gegen Handgelöbnis und Zahlung einer Kaution auf freien Fuß gesetzt zu werden, auch wegen des bevorstehenden Baues seiner Schmiedewerkstatt in Haubitz und seiner Hochzeit mit Johanna Sophie Lanzendorf aus Espenhain. Anscheinend glaubt ihm das Gericht und lässt ihn auf freien Fuß setzen, die Hochzeit findet wie geplant am 16.09.1849 in Thierbach statt. Jedoch wird Johann Ludwig Steuernagel verpflichtet, die Kosten des Verfahrens zu tragen. (mehr) Offensichtlich hat die Milde des Gerichts jedoch auf unseren Johann Ludwig Steuernagel keine belehrende Wirkung gehabt. Bereits im Jahre 1857 befindet er sich wieder beim Justizamt in Borna wegen Bedrohung in Untersuchungshaft, welches in einem Schreiben vom 01.07.1857 anfragt, welcher Vergehen Johann Ludwig Steuernagel bereits belangt wurde. (mehr)
Obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits Familie und zwei minderjährige Kinder hat, kommt er wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Er wird zu diesem Zeitpunkt als ehemaliger Schmiedegeselle und Armenhausbewohner bezeichnet. Die näheren Umstände, die dazu führten, müssen noch erforscht werden.
Selbst in späterer Zeit findet man Hinweise auf den Zuzug von Colditz nach Dresden. In einem Heftchen "Rundblick: Colditz und das Nacherholungsgebiet Colditzer Forst" lässt sich ein Eintrag zu den Ereignissen im Jahre 1848/1849 finden:

Quellen:
- "Akten des Königl. Justizamtes Borna des Schmiedegesellen Johann Ludwig Steuernagel aus Thierbach wegen Beteiligung an den Maiergenissen von 1849-1857", Staatsarchiv Leipzig, Amt Borna, Nr. 1160
- "Rundblick: Colditz und das Naherholungsgebiet Colditzer Forst", VEB typowerk, Wurzen III 1973
- "Velhagen & Klasings kleiner Handatlas, Ausschnitt aus der Karte Sachsen", Verlag Velhagen & Klasings, Bielefeld und Leipzig 1928